Im Unterschied zu anderen Essays, Aufsätzen und Tagebuchaufzeichnungen des frühen Hofmannsthal hebt er 1896 in seinem Vortrag über "Poesie und Leben" die formalästhetischen Züge der Kunst mit besonderem Nachdruck hervor.
Gleich zu Beginn stellt er fest, dass es kaum möglich sei, über die Künste zu reden, ja man nicht einmal über sie reden sollte. "Je tiefer man einmal in die Ingründe der Kunst hineingekommen ist" , desto schweigsamer werde man, bekennt er.
Bald wendet sich Hofmannsthal der zentralen Aussage seines Vortrags zu. Er beklagt, dass der "Begriff des Ganzen" in der Kunst verlorengegangen sei, dass man "Natur und Nachbildung zu einem unheimlichen Zwitterding zusammengesetzt" habe. Es geht ihm mit dieser Feststellung vor allem darum, eine Haltung abzuwehren, für die Lebenswirklichkeit und Kunstwahrheit auf einer Ebene liegen und nur durch eine "dichterische Zutat" zusammengesetzt sind. Dies mag auf den ersten Blick in einem Widerspruch zu Hofmannsthals vorher beschriebener Einstellung zum Verhältnis zwischen Leben und Kunst stehen. Bei genauem Hinblicken erkennen wir jedoch, dass sein Bekenntnis zu einem Bezug zwischen Poesie und Leben nicht aufgegeben wurde. Hofmannsthal weist lediglich auf die Eigenständigkeit der Dichtung als einer durch Sprache errichteten und von der natürlichen Lebensrealität abgehobenen Formenwelt hin. So gut getroffen der "gemalte Hintergrund" auch sein möge, in Wahrheit ist jedes Kunstwerk eine autonome Gestaltungsform und bildet als solche ein einheitliches, in sich geschlossenes Ganzes. Die Worte sind dabei alles, sie rufen Gesehenes und Gehörtes wieder zu neuem Dasein hervor. "Es führt kein von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie" - damit ist die Eigenständigkeit der Dichtung mit aller Deutlichkeit ausgesprochen.
In weiterer Folge widmet sich Hofmannsthal der Betrachtung von formellen Aspekten der Dichtkunst und stellt als Maßstab für den Wert einer Dichtung das Kriterium des Verhältnisses der einzelnen Teile zueinander vor. Er lobt die Regeln der Poesie, da sie für ihn gewissermaßen ein Qualitätskriterium für Dichtung abgeben. "Es gibt [...] schon zu viele Dilettanten, welche die Intentionen loben, und das ganze Wertlose hat Diener an allen schweren Köpfen" kritisiert er. Neben der guten Intention, dem guten Einfall müsse also auch dem formalen Aspekt Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Gegen Ende des Vortrags kommt er noch einmal auf die Aussage zurück, die ihm so viel wert scheint: "Sie müssen sich abgewöhnen, zu verlangen, daß man mit roter Tinte schreibt, um glauben zu machen, man schreibe mit Blut" . Mit dieser Feststellung ist getroffen, was im Zentrum von "Poesie und Leben" steht - die Eigenart des Formcharakters und der dadurch begründete Autonomieanspruch der Dichtung wird hervorgehoben, ohne jedoch dabei den Lebensbezug aus den Augen zu verlieren.
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