Humangenetik Erbkrankheiten A)Humangenetik (Überblick) In der Genetik spielt die Humangenetik eine besondere Rolle. Einerseits hat sie große Bedeutung für die Medizin, andererseits hat der Mensch großes Interesse, mehr über die biologischen Grundlagen seiner Existenz in Erfahrung zu bringen. Wie wir wissen, sind aus ethischen Gründen Experimente am Menschen nur bedingt vertretbar, sodaß man in der Vergangenheit in erster Linie aus den Veränderungen in der Nachkommenschaft auf erbliche Eigenschaften Schlüsse ziehen konnte. Durch die Analyse von Familienstammbäumen und der Zwillingsforschung, beide klassische Methoden in der Humangenetik, konnten dieser Wissenschaft wichtige Einsichten vermittelt werden. Der Humangenetik sind darüber hinaus aber auch durch die Molekularbiologie völlig neue Erkenntnisse vermittelt worden. Man fand durch die Analyse des menschlichen Genoms und dessen DNA- Sequenzierung nicht nur Informationen über Gen- Eigenschaften, sondern auch bei vorhandenen Gendefekten interessante Therapiemöglichkeiten.
In der Humangenetik hat die Zwillingsforschung bei der Suche nach den Ursachen von Erbkrankheiten schon frühzeitig eine wichtige Rolle gespielt, besonders bei der Untersuchung von Verhaltensmerkmalen. Es ist bekannt, dass eineiige Zwillinge äußerlich kaum voneinander zu unterscheiden sind. Sie haben die gleiche Chromosomenanzahl, wobei sich die entstehenden Zellen bereits in einem frühen Entwicklungsstadium trennen. Zweieiige Zwillinge entwickeln sich aus zwei verschiedenen befruchteten Eizellen. Bestimmte Merkmale bei monozygoten Zwillingen im Vergleich gesehen, können uns Aufschluss geben, ob sie mehr umweltbeeinflußt oder stärker genetisch grundgelegt sind. Man untersucht dazu monozygote und dizygote Zwillinge und stellt Konkordanz und Diskordanz prozentuell fest.
Einige Beispiele: Wie dieser Vergleich zeigt, weisen viele der untersuchten Eigenschaften auch bei eineiigen Zwillingen ein großes Maß an Abweichungen auf, so dass der Schluss nahe liegt, in einem hohen Ausmaß von der Umwelt beieinflußt zu sein. Manche Erbkrankheiten, wie beispielsweise der Albinismus, zeigen bei eineiigen Zwillingen eine 100%ige Übereinstimmung in ihrer Ausprägung und sind genetisch bedingt (hervorgerufen zum Beispiel durch den Ausfall eines Genproduktes). Neben einer nicht unerheblichen erblichen Komponente im "Ausdruck" einer Krankheit werden viele Leiden, beispielsweise manische Depressivität, nicht unerheblich durch Beiträge aus der Umwelt gesteuert. Den Anteil des genetischen Beitrages genau zu bestimmen, ist nicht einfach. Dies gilt besonders für alle Verhaltensmerkmale. Aussagen über angeblich erblich abnorme Verhaltensweisen (zum Beispiel Kriminalität) müssen daher mit großer Vorsicht beurteilt werden.
B) Medizinsche Hilfestellung bei genetisch bedingten Krankheiten Hilfe durch Therapie Eine direkte medizinische Hilfe ist hier nur bei wenigen Erbkrankheiten möglich. Wichtig wäre hier die bessere Kenntnis von primären Ursachen von Erbdefekten bei Genmutationen, um Wege zu einer begrenzten Therapie anderer Erbkrankheiten zu finden. Der Erbdefekt müsste so früh wie möglich erkannt und behandelt werden, um erfolgreiche Therapien ( prä- oder postnatal) zum Einsatz bringen zu können. Bei Verbesserungen des allgemeinen gesundheitlichen Zustandes und der sozialen Stellung der Betroffenen können Hilfestellungen gegeben werden, wenn auch für viele Gendefekte entsprechende Therapiemöglichkeiten heute leider noch fehlen. Trotz vieler Fortschritte der Gentechnologie werden aber Erbkrankheiten auch in unserer Zeit ein schwerwiegendes medizinisches Problem bleiben. Der Therapieschwerpunkt sollte daher auf präventiven Schritten liegen und ist auf mehreren Ebenen möglich: Stammbäume bilden eine gute Grundlage für genetische Familienberatung.
Molekulare Diagnosemöglichkeiten stehen uns heute bei Hinweisen auf Erbkrankheiten zur Verfügung und lassen eindeutige Aussagen über genetische Konstitutionen zu. Ein positiver Befund einer Erbkrankheit erfordert aber nicht nur Entscheidungen aus medizinischer Sicht, sondern ist zum Großteil eine wichtige persönliche Entscheidung der Betroffenen (zum Beispiel bei der Frage über einen möglichen Schwangerschaftsabbruch). Hier sind Eltern und Arzt zu großer Sorgfalt und großem Verantwortungsbewusstsein aufgerufen. C) Möglichkeiten zur Früherkennung von Erbkrankheiten Fruchtwasseruntersuchung( cytologische Untersuchung) Das Amnion (die inneren Eihäute der embryonalen Zelle) ist mit Fruchtwasser gefüllt, als Schutz für den Embryo, und enthält Zellen, die den Genotyp des Embryos aufweisen. Gewinnt man ab der 12. Woche einer Schwangerschaft 30 ml Fruchtwasser mit Hilfe einer Injektionsspritze, so erhält man genügend embryonale Zellen für eine Chromosomenanalyse (Amniocentese).
Man lässt die Zellen in einem eigenen Kulturmedium wachsen (erhöht dadurch die Zellenanzahl) und kann nach chromosomalen Defekten (Aberrationen der Chromosomenanzahlen) suchen. Mit Hilfe molekularbiologischer Methoden können heute Chromosomenaberrationen noch schneller nachgewiesen werden. Die Amniocentese birgt jedoch in gewisses Risiko (Abort 0,6 %). Chorionzottenbiopsie Ab der 11. Schwangerschaftswoche werden Zellen des Mutterkuchens mit einer Kanüle durch die Bauchdecke gewonnen. Diese Untersuchung ist besonders für ältere Frauen geeignet (Fehlgeburtrisiko 2-3%).
Statt der Chorionzottenbiopsie kann aber auch eine Amniocentese in der 15-17. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden. Beide Untersuchungen zeigen Veränderungen in der Chromosomenanzahl und Struktur. Biochemische Methoden Durch biochemische Methoden können heute mehr als 100 weitere Erbkrankheiten diagnostiziert werden. Enzym- oder Antikörperreaktionen zeigen nur in einfachen Fällen eine Krankheit an. Bei schweren Krankheiten wie Chorea Huntigton ("Veitstanz") oder Sichelzellenanämie kann man durch einfache DNA - Untersuchungen die genetische Beschaffenheit dieser Gene im Embryo feststellen.
D) Farbenblindheit Die Anlage für Farbtüchtigkeit setzt sich bereits während der Entwicklung des Lebewesens gegenüber der für Rotgrünblindheit durch, sie ist dominant, die Anlage für Rotgrünblindheit ist dagegen rezessiv. Sie ist im Erbgut vorhanden, wirkt sich aber nicht als Merkmal aus. Die Töchter sind zwar im Phänotyp farbtüchtig, übertragen aber ihre Rotgrünblindheit auf ihre Nachkommen (Konduktorinnen) Ihre Mutter hatte zwei Anlagen für Farbtüchtigkeit, sie ist homozygot, die Töchter hatten eine dominante Anlage für Farbtüchtigkeit und eine rezessive für Rotgrünblindheit, sie sind heterozygot. Eine rezessive Anlage kann sich im Phänotyp nur ausprägen, wenn auf dem anderen Chromosom keine Anlage für Farbtüchtigkeit vorhanden ist, das trifft bei Frauen zu, die doppelt rezessiv sind, außerdem bei Männern. Farbblindheit ist also ein X-chromosonaler, rezessiver, erblicher Defekt. Ihre Verbreitung liegt bei Männern zwischen 5% und 9%, bei Frauen um 0,9%.
Die Farbempfindlichkeit der Zellen wird durch drei Gene bestimmt: Zwei X-chromosomale (Grün, Rot) und ein autosomales (Blau). Für alle drei Gene sind Veränderungen bekannt, so dass man Störungen des Grün- Sehens, des Rot- Sehens und des Blau- Sehens unterscheiden kann. Am häufigsten funktionell gestört ist das Grün- Sehen. Die Folge ist, dass Rot und Grün nicht unterschieden werden können (Deutan-Typ) Seltener tritt der Protan-Typ auf, der von einem anderen X-chromosomalen Gen verursacht wird und der auf einem Defekt in der Fähigkeit des Rot- Sehens beruht. Rot und Grün können nicht unterschieden werden. Nur etwa 25 % aller Rot-Grün-Blinden gehören zum Protan-Typ, die anderen 75 % zum Deutan-Typ.
Beim Tritan-Typ wird durch ein defektes Gen die Fähigkeit gestört, blaue Farben zu erkennen. Tritt selten auf. Es gibt aber auch ein autosomales Gen, dessen Defekt völlige Farbblindheit zur Folge hat. E) Chromosomenanomalien Klinefelter- Syndrom Bei Geschlechtschromosomen können Trisomien auftreten. Die Anwesenheit eines Y-Chromosoms zusätzlich zu einem normalen weiblichen Chromosomensatz (XXY) hat schwerwiegende Auswirkungen, da das Y-Chromosom Träger männlicher geschlechtsbestimmender Gene ist. Daher ist das Geschlecht dieser Individuen trotz doppeltem X-Chromosom männlich.
Diese Männer haben überlange Arme und Beine, keine Körperbeharrung, kleine Hoden, sind steril und haben eine verminderte Intelligenz. Die Häufigkeit beträgt 1 auf 800 männliche Neugeborene. Turner- Syndrom Hier fehlt ein X-Chromosom bei der Frau. X0-Typ kommt einmal unter 5000 Geburten vor. Hat Sterilität zur Folge und ist zu 75 % auf die Befruchtung mit Spermien ohne Geschlechtschromosom zurückzuführen, - ist also väterlichen Ursprungs. Es kommt in diesem Fall meist zum frühzeitigen Abort der XO Embryonen.
Down- Syndrom (triploide Beschaffenheit des Chromosoms 21) Trisomie 21, früher gebräuchliche Bezeichnung: Mongolismus Die Ähnlichkeit mit Individuen mongolischer Abstammung beruht auf einer schmalen Augenfalte am inneren Augenwinkel (" Epikanthus") Symptome: Geistig zurückgeblieben, verzögerte Skelettentwicklung, Verminderung der Muskelspannung. Beim Neugeborenen abnormer Verlauf der Falten in den Handinnenflächen, Herzanomalien, Störung des Immunsystems. Führte früher meist zum Tod des Kindes um das 9. Lebensjahr. Heute liegt die mittlere Lebenserwartung durch Medikamente bei ca. 50 Jahren.
Die Häufigkeit des Down-Syndroms ist mit 1 von 800 Geburten relativ hoch und hängt mit dem Lebensalter der Mutter zusammen. F) Erbliche Stoffwechselanomalien Phenylketonurie (PKU) Im Blutserum der Kranken fand man einen hohen Gehalt an der Aminosäure Phenylalanin. Durch ein Enzym sollte sie in die Aminosäure Tyrosin umgewandelt werden. Beim Fehlen dieses Enzyms kommt es zu einem Stoffwechselblock, der das Gehirn vergiftet. Symtome: Erbrechen, Hautausschlag, geistig zurückgeblieben Individuen. Die Häufigkeit dieser autosomal-rezessiven Erbkrankheit beträgt 1: 10000.
Früherkennung: Der Urin färbt sich mit Eisenchlorit grün (Windeltests bei Babys) Guthrie-Test: Bestimmte Bakterienstämme wachsen gewöhnlich nicht mit der Phenylalaninmenge die im normalen Blut vorhanden ist; bei PKU- Patienten mit erhöhter Konzentration an Phenylalanin im Blut jedoch schon. Die Therapie besteht aus einer phenylalaninarmen Diät. Wichtig ist eine frühzeitige Erkennung der Homozygoten. Galaktosämie Die Galaktose (Milchzucker) kann im Körper nicht abgebaut werden. Die Krankheit tritt selten auf (1:50000 Neugeborene) Symptome: Brechdurchfall, Gelbsucht, Trübung der Augenlinsen, Schwachsinn Bei einem normalen Kind wird Galaktose über 2 Zwischenstufen in Traubenzucker umgewandelt; 3 Enzyme sind dazu notwendig. Bei einem kranken Kind fehlt das Enzym I, weil das Gen, das es heraus bildet, mutiert ist.
Die Krankheit wird autosomal - rezessiv vererbt und tritt auf, wenn beide Eltern das rezessive Gen vererben. Therapie: Mit einer milchzuckerfreien Diät von den ersten Lebenstagen an, entwickelt sich das Kind körperlich und geistig normal. Der Kranke muss aber weiterhin jeden Milchzucker meiden. Ein Teil der Stoffwechselkrankheiten, die zu Schwachsinn führen, ist mit einer entsprechenden Diät gut behandelbar. G) Genetische Zukunftsperspektive Sie wird heute unterschiedlich beurteilt. Häufig wird die Meinung vertreten, das Erbgut der Menschheit verschlechtere sich zusehens.
Als Ursachen wird eine Reihe von Faktoren angeführt: Veränderungen der natürlichen Umweltbedingungen führen zu negativen Mutationen (Industrie - und Verkehrsabgase, Nahrungsmittelzusätze, Strahlenbelastung u.a.m.) Die Wertigkeit der Mutationen und ihre Auswirkungen sind aber nicht abzuschätzen. Durch den medizinischen Vorschritt und die Technik kommt es zum Wegfall der natürlichen Auslese. Defekte Gene werden häufiger an die Nachkommen weitergegeben.
Der Nobelpreisträger H.J. Muller hat 1950 Von einer "verstärkten genetische Bürde" in den Heterozygoten gesprochen Wie könnte man in diese negative Entwicklung bremsend eingreifen? Bereits seit dem vorigen Jahrhundert weiß man von Bestrebungen, durch gezielte künstliche Auslese negative Gene auszumerzen. Im Jahre 1883 prägte F. Galton für Maßnahmen zur Verbesserung des Genpools Erbpflege oder Eugenik. In der Zeit des Nationalsozialismus glaubte man durch Sterilisierung von Erbkranken und Schwachsinnigen eine Verbesserung des Genpools erreichen zu können.
Die Auslöschung " minderwertigen Lebens" zählt zu den größten Verbrechen an der Menschheit; man wollte den" Idealmensch" schaffen. Alle diese Versuche scheiterten kläglich aufgrund der Erbstruktur des Menschen. Einerseits ist klar, dass sich auf diese Weise das Auftreten und die Zahl neuer Mutationen an den Genen nicht verhindern lassen. andererseits ist es in vielen Fällen nicht möglich zu entscheiden, ob jemand erbkrank ist oder nicht (angeboren oder ererbt) Gehirndefekte beim Neugeborenen durch Sauerstoffmangel gehören heute ebenso zu den angeborenen Schäden wie Entwicklungsschäden durch Medikamente (zum Beispiel Contergankinder) oder schädliche Stoffe, die von der Mutter während der Schwangerschaft aufgenommen wurden (zum Beispiel Drogen, Alkohol, Nikotin u.a.m.
) Obwohl man eugenischen Maßnahmen heute vielfach kritisch gegenübersteht, findet genetische Familienberatung uneingeschränkte Anerkennung. Ein weiterer Weg bei Erbdefekten Hilfe leisten zu können führt über medizinische Maßnahmen, vorwiegend auf der Enzymebene; Es ist dies die Euphänik. Phenylalaninarme Diät bei PKU oder milchzuckerfreie Diät bei Galaktosämie gehören dazu. Die Rechtfertigung dieser Maßnahme liegt in der Einsicht, dass menschliches Leben in jeden Fall erhaltenswürdig ist. Zahlreiche Beispiele belegen viele außerordentliche Leistungen Kranker oder Behinderter auf verschiedenen Gebieten unseres Lebens. Wir erwarten, dass sich die Zahl der Kranken in der Bevölkerung in den nächsten Jahren ständig erhöhen wird und die Menschen dies oft nicht zuletzt einer "chemischen Prothese" verdanken.
Eingriffe in das Genom des Menschen sind aber eher skeptisch zu beurteilen. Wir wissen noch zu wenig über die komplizierten Wechselwirkungen zwischen den Genen einerseits und der Umwelt andererseits. Die entscheidenden Schritte müssen auf anderen Ebenen gemacht werden. Politiker und Wissenschaftler haben die ethische und moralische Verpflichtung alles zu tun, um einer katastrophalen Verschlechtung des Genpools der Menschheit entgegen zu wirken.
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